Ausnahmesituation seit 5 Monaten. Drei davon hat dieser Blog mit Gedankenanregungen begleitet. Zeit, ein Resümee zu ziehen, bevor aus der Ausnahme Gewohnheit wird und aus der Gewohnheit Gedankenlosigkeit. Was habe ich in den letzten Wochen gelernt und erkannt?
Der Gottesdienst – Mitte des Gemeindelebens?
Mich hat sehr verwundert, wie gottesdienstfixiert die innerkirchliche Diskussion war. Der Wegfall der Gottesdienste wurde als schmerzlicher Verlust, von einigen sogar als Affront gegen die Freiheit der Religion gesehen. Der Gottesdienst wurde sowohl von einigen Autoren als auch in Gesprächen als „Mitte des Gemeindelebens“ bezeichnet. Man konnte sich teilweise des Eindrucks kaum erwehren, dass hier, auf den Kirchenbänken – für einige auch fast problemlos erweiterbar auf die Polstersessel im Wohnzimmer vor dem Bildschirm -, der Christ alles bekomme, was er zum Leben und Sterben braucht. Doch überzeugt bin ich noch nicht.
Auch wenn ich den gemeinsamen Gottesdienst für unverzichtbar und unersetzlich halte, hat keiner der Autoren anhand des Neuen Testaments zeigen können, dass der Gottesdienst zwingend das Zentrum des Gemeindelebens sein muss. Weniges, was als Bestandteil des klassischen Gottesdienstes beschrieben wurde, könnte nicht auch in anderen gemeinschaftlichen Versammlungen im Namen Jesu gelebt und ausgeübt werden. Christen in der Verfolgung sehnen sich sicher nach großen Treffen mit allen Christen ihres Ortes, aber sie brauchen sie nicht, um Gemeinde Jesu zu sein und als solche zu leben. Und vieles, was der frontal ausgerichtet Gottesdienst nicht ermöglicht, ist nur in informelleren Situationen denkbar.
Ich wünschte mir eine Diskussion, die das gesamte Gemeindeleben in den Blick nimmt, statt sich auf eine besonders greifbare Gottesdienstform zu verengen. Aber hier zeigt sich, dass auch vor Corona der Schwerpunkt der Gemeindetheologie und -praxis auf dem klassischen „Massengottesdienst“ lag. Zeit, hier weiter zu denken.
Knochen oder Krücken?
Das führt unmittelbar zu einer zweiten Beobachtung. Der mehr oder weniger erzwungene Ausfall der Gottesdienste hat die unausgewogene Programmorientierung vieler Gemeinden offengelegt. Dass sich fast das gesamte Gemeindeleben im Gottesdienst, in thematischen Ausschüssen, Arbeitsgruppen oder organsierten Programmen abspielte, wurde manchen Gemeinden sehr deutlich bewusst, als solche Versammlungen nicht mehr möglich waren. Ich vermute: Nicht selten hält sich eine Gemeinde überhaupt noch aufrecht, weil das äußere Gerüst der Gewohnheit, der langfristigen Planung und der Strukturen auch noch steht, wenn die Muskeln schon längst erschlafft sind oder wenn der Körper schon längst tot ist. Als die Krise nun diese Krücken wegschlug, was blieb noch vom gemeinsamen geistlichen Leben? Erleichterung, dass man sich endlich der Schwerkraft hingeben und mit kirchenbehördlicher Erlaubnis zu Boden sinken konnte? Oder der krampfhafte Versuch, die alten Stabilisatoren digital zu übersetzen? Stabilität durch gute Gewohnheiten und eine gute Planung ist wichtig. Auch ein Körper braucht ein kräftiges Knochengerüst. Aber wenn Sehnen, Gelenke und Muskeln absterben, verhärten oder sich zurückbilden, wenn die Knochen den Kontakt zu ihnen verlieren, übernehmen äußere Stabilisatoren ihre Funktion. Der Körper steht, aber das Gehen fällt immer schwerer, wird unnatürlicher und wird schließlich ganz eingestellt.
Ich wünschte mir, Gemeinden würden sich stärker darum bemühen, ihre geistlichen Muskeln zu trainieren, statt sich auf ihr Exo-Skelett zu verlassen. Das könnte auch bedeuten, die eine oder andere Krücke ab- oder zumindest zurückzubauen, um endlich wieder laufen zu lernen.
Programmierter Verschleiß
Dass Christen einer Gemeinde ihre Kräfte auf Programme, Veranstaltungen und Arbeitsgruppen konzentrieren, bedeutet oft auch, dass nicht mehr viel Energie und Zeit für einzelne Menschen und ihre Bedürfnisse bleibt. Fast unmerklich geht die Flexibilität verloren, die doch nötig ist, wenn wir einander in den unplanbaren Wechselfällen des Lebens dienen wollen. Vor lauter hilfreichen Projekten verlieren wir die Kraft, einander wahrzunehmen und unsere Zeit unseren Geschwistern zu schenken. Und nicht selten bleibt nicht einmal genug Energie für uns, um geistlich, seelisch und leiblich stark zu bleiben. Ein Grund, warum viele das auf Eis gelegte Gemeindeleben heimlich mit Erleichterung begrüßt haben.
Ich wünschte mir, dass die Krise Gemeinden dazu bringt, alle ihre Programme und Projekte auf den Prüfstand zu stellen und alle Aktivitäten abzuschaffen oder zu reduzieren, deren Ziele nicht auch durch persönliche Begegnung und gelebte Gemeinschaft erreicht werden könnten – oftmals sogar viel besser. Rauben die aufwendigen Programme (und die vielen dafür notwendigen Besprechungen) den beteiligten Christen nicht die Kraft und Zeit, die sie brauchen, um sich Zeit füreinander zu nehmen und sich sogar darauf zu freuen?
Hungrig nach Gemeinschaft
In diesem Zusammenhang hat mich eine Aussage in einem Leserbrief zu meinem letzten Artikel („Gottesdienst des Alltags“) nachdenklich gemacht. Die Autorin schrieb selbstkritisch, wir seien bereits so ausgefüllt mit Pflichten und Freizeitaktivitäten, dass sich Gemeinschaft oft wie eine weitere Aufgabe anfühle. Kein Wunder also, dass manche froh waren, mit dem Stillstand von Gesellschafts- und Gemeindeleben endlich selbstbestimmt über die eigene Freizeit entscheiden zu können. Nicht selten fiel die Entscheidung zugunsten von Netflix und anderen Hobbys aus. Wie konnte es nur so weit kommen? Was sollen wir tun, damit Gemeinschaft mit wertvollen Menschen wieder die schönste aller Freizeitaktivitäten wird?
Ich wünschte mir, dass das Nachdenken über die Krise bei mir und anderen dazu führt, unser Leben auszumisten: von Unterhaltungsprogrammen, Beschäftigungstherapien und von Hobbies, die uns vereinsamen lassen. Dass wir die vielen Süßigkeiten weglassen, um wieder Hunger auf die wirklich gute Nahrung zu bekommen. Dass wir lernen, unsere Freizeit mit Menschen zu füllen und uns auf diese Begegnungen zu freuen wie auf den Feierabend und das Wochenende.
Gottesdienste – live und unstreambar
Dass ich den „Gottesdienst des Alltags“ so sehr betone, bedeutet nicht, dass der klassische, gemeinsam gefeierte Gottesdienst nicht auch überaus wichtig wäre. Im Gegenteil: Dieser Gottesdienst muss sogar bedeutsamer werden als bislang, nur eben nicht auf Kosten anderer Aspekte des Gemeindelebens. Ich meine, die Diskussion über die Chancen und Grenzen eines digitalen Gottesdienstes zeigt auf, dass viele unserer gottesdienstlichen Veranstaltungen (!) so wenig Tiefendimension haben, dass sie problemlos und ohne inhaltlichen Qualitätsverlust auf dem heimischen Fernseher abzubilden sind. Es lohnt sich, auch nach Corona darüber nachzudenken, wie ein Gottesdienst aussehen sollte, der nicht auf einem 2D-Bildschirm zu erfassen ist.
Ich wünschte mir, dass Gottesdienste so gestaltet werden, dass man es als schmerzliche Notlösung empfindet, wenn man aufgrund von hinderlichen Umständen auf einen bloßen Life-Stream angewiesen ist. Und dass nichts, auch nicht der beste Surround-Sound und die höchstauflösenden Nahaufnahmen, die Freude einer leibhaftigen Teilnahme ersetzen können.
Kopie oder Kerze?
Die Diskussion innerhalb der Kirchen und unter Christen um die Folgen der Coronakrise schließlich hat auch deutlich gezeigt: Die gesellschaftlichen Debatten wurden einfach nur wiederholt, gelegentlich versehen mit einem christlichen Anstrich. Ob nun die Aussagen der „offiziellen“ Medien oder der sogenannten alternativen Medien als Grundlage für die eigene Meinungsbildung und von erbitterten Streitgesprächen herangezogen wurden: Alle schienen bestens informiert über die gängigen Argumente, kannten alle Statistiken, Zahlen, Theorien, die die eigene Position stützten. Es irritiert mich, dass die Kirchen sich wie so oft als bloße Kopien der Gesellschaft erwiesen haben. Hat die Gemeinde Jesu denn nicht mehr zu bieten als „copy and paste“? Warum haben sich die Debatten bei uns nur einfach wiederholt? Warum gab es dieselben Gräben wie in der Gesellschaft, dieselben Themen, dieselben Antworten, dieselben Taten? Es gäbe viel zu bedenken und zu diskutieren, zu hinterfragen und neu zu lernen. Wie kann die Gemeinde zu einem Ort werden, an dem Einsamkeit und Isolation in gelebter christlicher Gemeinschaft überwunden werden? Welche Antwort hat Jesus auf unser Selbstmitleid oder unsere aufkommende Verzweiflung und Angst? Was können wir tun, um Geschwistern in Not zu helfen – vor Ort und weltweit? Fragen wie diese hätten uns besser zu Gesicht gestanden als beispielsweise die beständigen Klagen über die staatlichen Maßnahmen oder ihre pauschale Verteidigung. Wenn die Gemeinde nicht mehr zu sagen und zu bieten hat als alle anderen, warum gibt es sie überhaupt?
Nicht, dass die Kirche Jesu um jeden Preis anders sein muss, um des Andersseins willen. Nicht, dass sie nicht lebhaft Anteil an den gesellschaftlichen Debatten nehmen sollte oder sich nicht auch in einzelnen Fragen begründet zu der einen oder anderen Position hinzugesellt. Aber ich wünschte mir, sie wäre unabhängiger, würde sich nicht anbiedern, sondern auch zusätzlich ihre eigenen Fragen stellen, ihre eigenen Antworten aus dem Glauben an Gott schöpfen. Ich wünschte, dass sie Ernst, Barmherzigkeit und Hoffnung in diese Welt streut und sich nicht an der verbreiteten Verbitterung und Besserwisserei auf allen Seiten beteiligt. Dass gesellschaftliche Gräben in ihr aufgefüllt sind und liebevolle Weisheit mehr wiegt als Klugheit und das machtvoll vorgetragene Argument. Ich wünschte, dass die Christen sich von Gottes Wort statt nur von Zeitungen oder Vlogs durch die Krise leiten lassen würden.
Wenn die Kirche nur ein Abbild der Gesellschaft, ihrer Meinungen und Verwerfungen ist, wird sie doch eigentlich überflüssig – wie Salz, das nicht mehr salzt. Wenn aber die Menschen in Berührung mit ihr kämen – ob nun im gemeinsamen Gottesdienst oder im Alltag – und dort Gemeinschaft und Gott selbst erleben würden, dann wäre sie wie ein Licht, das durch Dunkelheit und Nebel dringt.
Das Corona-Chaos hat die Wunden und blinden Flecke der Gemeinde Jesu offengelegt. Ich wünschte mir, sie würde gestärkt daraus hervorgehen: weiser und liebevoller und lebendiger.
ist Lehrer für Deutsch, Geschichte und Darstellendes Spiel und genießt gerade sein (erstes) Sabbatjahr. Seit mehreren Jahren arbeitet er im Wolfsburger Verein „FACE“ mit, einer kleinen, christlichen Bildungsinitiative für Entwicklungsländer. Ein- bis zweimal pro Jahr hält er sich mehrere Wochen auf dem FACE-Bildungscampus in Malawi auf.
Eduard ist Teil des Teams von Kirche & Corona.