Der Vergangenheit nicht nachtrauern, die Gegenwart kritisch akzeptieren, die Zukunft gestalten

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Das Corona-Virus hat unseren Alltag in den letzten zwei Monaten so massiv durcheinandergebracht, wie man es sich das in der Zeit davor kaum oder gar nicht vorstellen konnte. Davon sind auch die Kirchen und Gemeinden betroffen, die mit drastischen Einschränkungen ihrer Gottesdienste und anderer gemeindlicher Aktivitäten zu kämpfen hatten und immer noch haben.

Alle diese Einschränkungen rufen immer breitere Debatten über ihren Sinn und Zweck, ihre Berechtigung und Rechtmäßigkeit hervor, sowohl in der Gesellschaft als Ganzes als auch in den Kirchen im Besonderen.

Ein Teil dieser Debatte findet sich auch in Beiträgen auf dieser Seite wieder.

Will man sich einem Thema sachgemäß näher, muss es zunächst in seine Kernelemente herunterbrechen: Was ist das zentrale Problem, die zentrale Frage, die im Mittelpunkt der ganzen Thematik steht?

Die Kernfrage hinter den ganzen Diskussionen und der ganzen Aufregung über das Verhältnis von Politik und Religion im Zuge der Corona-Krise lautet für mich: Hat der Staat das Recht, sich in dieser Form in die Religionsausübung einzumischen? Bei dieser Frage muss die Aussage „in dieser Form“ näher definiert werden: In welcher Form genau hat der Staat in die Religionsausübung eingegriffen?

Dabei kann der Staat sich theoretisch in zwei Bereichen in die Religionsausübung einmischen:

  1.  Er kann sich in die praktische Durchführung und die Rahmenbedingungen der Religionsausübung einmischen
  2. Er kann sich in inhaltliche Fragen der Religionsausübung einmischen

Die Einschränkungen der letzten Wochen fallen in Kategorie 1. Und selbst in dieser Kategorie sind die Einschränkungen nicht vollumfassend gewesen. Es wurde ja nicht die Religionsausübung an sich verboten, sondern die Durchführung gemeinschaftlicher, religiöser Versammlungen. Natürlich ist das ein bedeutender, zentraler unseres religiösen Lebens, aber unsere religiösen Versammlungen sind nicht das ausschließliche Element unseres religiösen Lebens.

Diese Beobachtungen sind für die spätere Beantwortung der zentralen Frage von Bedeutung. Zunächst möchte ich mich aber noch einigen anderen Fragen im Orbit dieses Themas zuwenden:

Früher war mehr Lametta, aber lamentieren bringt es nicht zurück

Ich erlebe unter einigen meiner Mitchristen – ob einfache Gemeindemitglieder, ehrenamtliche Leiter oder hauptamtliche Mitarbeiter – eine teilweise sehr emotionale Debatte über den Umgang des Staates mit den Kirchen. Einerseits ist das verständlich. Ich vermute unter Fußball-Fans gibt es auch hitzige Debatten darüber, was im Fußball los ist und wie es weitergehen sollte. Was einem am Herzen liegt, dafür setzt man sich ein.

Auf der anderen Seite kommen für mich noch ein paar Faktoren hinzu, die das Thema „Kirche“ vom Fußball unterscheiden. Ich höre nämlich schon die Einwände „Man kann Kirchen doch nicht mit Fußball vergleichen. Schließlich hat Religion Verfassungsrang und ist von essentieller Bedeutung für die Gesellschaft!“

Und genau hier liegt die Crux der Thematik. Ja, Religionsfreiheit ist in der Verfassung verankert. Der Fußball nicht. Aber in der gesellschaftlichen Wirklichkeit dürfte es ein wenig anders aussehen. Da stehen beide Themen im besten Fall auf einer Stufe, im schlimmsten Fall ist Fußball für die Gesellschaft faktisch von größerer Bedeutung als der Gottesdienst.

Natürlich hat die Religion historisch gesehen eine enorm große Stellung für die Gesellschaft eingenommen. In der Hinsicht war früher mehr Lametta.

Ich fürchte aber, dass manche es noch nicht ganz verwunden und eingesehen haben, dass sich das massiv verändert hat und die Kirchen nur ein Punkt unter vielen anderen auf der TOP Liste der Politik sind. Das kann man beklagen oder nicht, aber ändern kann man das zunächst mal nicht. Lamentieren ändert die Realität nicht. Vielmehr muss man die neue Realität anerkennen und dann das Beste daraus machen.

Mich erinnert das ein wenig an den Tempelbau in Haggai. In Kapitel 3,2 steht folgender Vers:

„Ist unter euch noch einer übrig, der diesen Tempel in seiner früheren Herrlichkeit gesehen hat? Und was seht ihr jetzt? Erscheint er euch nicht wie ein Nichts?“

Aus dem Kontext kann man erschließen, dass einige der Alten im Volk sich an den alten Tempel erinnern konnten. Sie schauten sich die Ruine an, die vor ihnen lag und waren ohne Antrieb daran zu arbeiten, weil ihnen die Zuversicht fehlte, dass es jemals so wird, wie es mal war. Gott ermutigt das Volk aber:

„4 Aber nun fasse Mut, Serubbabel — Spruch des Herrn —, fasse Mut, Hoherpriester Jeschua, Sohn des Jozadak, fasst alle Mut, ihr Bürger des Landes, – Spruch des Herrn — und macht euch an die Arbeit! Denn ich bin bei euch — Spruch des Herrn der Heere. … 9 Die künftige Herrlichkeit dieses Hauses wird größer sein als die frühere, spricht der Herr der Heere. An diesem Ort schenke ich die Fülle des Friedens — Spruch des Herrn der Heere.“

Gott fordert sie auf, nicht auf vergangene Zeiten zu schauen, sondern sich der Gegenwart zu stellen und der Zukunft mutig entgegenzugehen, denn Gott ist bei ihnen.

Aus diesem Grund würde ich mir auch für unseren Diskurs über die Beziehung zwischen Religion und Politik wünschen, dass wir weniger der früheren Lametta nachtrauern. Stattdessen sollten wir uns realistisch der aktuellen Situation stellen und dazu gehört auch der faktische Stellenwert der Kirche für die Gesellschaft. Das bedeutet natürlich nicht, jede Kröte zu schlucken. Aber es bedeutet sehr wohl, dass wir darüber nachdenken, worüber wir reden und in welchen Tönen.

Spielräume und Grenzen der Politik

Kernaufgaben des Staates

Wenn wir das Verhältnis von Politik und Kirchen betrachten wollen, müssen wir uns zunächst fragen, was die Kernaufgaben des Staates sind. Das ist u.U. nicht mehr so einfach zu beschreiben, weil der Staat im Laufe der Zeit immer mehr Aufgaben übernimmt.

Artikel 1 des Grundgesetzes gibt dem deutschen Staat seine Kernaufgabe vor: „(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Absatz 2 und 3 dieses Artikels leiten dann zu den nachfolgenden Paragrafen über, die den Umfang dieser Kernaufgabe näher beschreiben.

In Artikel 2 (2) wird formuliert: „(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“

In Artikel 4 finden wir dann diese Absätze: „(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“

Der Schutz des Lebens, die Freiheit der Person und die Freiheit der Religionsausübung stehen eng beieinander und definieren – neben den anderen Artikeln – die Kernaufgabe des Staates. Es ist Verpflichtung des Staates, diese Grundrechte seiner Bürger zu wahren. Der Staat steht immer dort vor einer enormen Herausforderung, wo diese Grundrechte in Konflikt zueinander geraten. So wie das im Zuge der Corona-Epidemie geschehen ist.

Was ist, wenn die freie Religionsausübung, wie sie bisher praktiziert wurde, plötzlich die körperliche Unversehrtheit gefährdet? Wie soll der Staat diese durch die Verfassung garantierten Grundrechte in Einklang miteinander bringen?

Wenn wir uns das Verhältnis von Staat und Kirche unter diesem Aspekt anschauen, dann werden wir feststellen, dass der Staat sich schon immer in gewisser Hinsicht in die Religionsausübung eingemischt hat.

Der Staat hat sich schon immer in die praktische Religionsausübung eingemischt

Wer ein neues Gemeindehaus für seine christliche Gemeinschaft vor Ort bauen möchte, weiß, dass er auf dem Weg zum fertigen Gebäude sehr viel Papier verbrauchen wird für die Erstellung von Anträgen, Nutzungskonzepten, Plänen etc. Wieso? Weil es jedem klar ist, dass man nicht einfach ein Gebäude bauen kann, wie man möchte. Es gibt gesetzliche Vorgaben für die Errichtung und Nutzung von Gebäuden.

Keiner käme in diesem Zusammenhang auf die Idee, sich darüber zu beschweren, dass der Staat sich in die freie Religionsausübung einmischt, weil er es untersagt, dass ich ein Gebäude mit 500 Personen nutze, das nur für 150 Personen ausgelegt ist. Selbst wenn wir nicht alle Details der Bau- und Sicherheitsverordnungen nachvollziehen können, verstehen wir doch, dass diese grundsätzlich gut und wichtig sind.

Kommen wir also auf die Frage zu Beginn dieses Aufsatzes zurück: Ich hatte beschrieben, dass der Staat sich auf zwei Arten in die Religionsausübung einmischen kann: In die Rahmenbedingungen und in die Inhalte.

Wir sehen jetzt: Der Staat hat sich schon immer in die Rahmenbedingungen der praktischen Religionsausübung eingemischt und in der Regel wird das auch akzeptiert, weil wir den Sinn dahinter verstehen.

Der Unterschied jetzt ist, dass der Staat mit einem Mal die Rahmenbedingungen für die Religionsausübung drastisch und in breitem Umfang verändert hat. Das hat es in dieser Form noch nicht gegeben.

Festhalten müssen wir aber, dass der Staat sich nicht in die praktische Religionsausübung an sich eingemischt hat – denn Gebet, Bibellesen, Videokonferenzen, Predigten etc. sind ja weiterhin möglich, wenn auch nicht gemeinsam im Kirchengebäude. Und der Staat hat sich nicht in die Inhalte unserer Religionsausübung eingemischt.

Diese Feststellung ist für mich für die Bewertung der bisherigen Maßnahmen und der aktuellen Situation von zentraler Bedeutung. Wichtig ist für mich, dass wir bei dieser Bewertung mit Gottes Maßstäben hantieren.

Gott sieht auf das Herz

In 1. Samuel 16,7 steht dazu: „Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der Herr aber sieht das Herz.“ Da kann das Verhalten von zwei Menschen nach außen identisch sein und doch kann das Verhalten des Einen in Gottes Augen gut und das Verhalten des Anderen in Gottes Augen böse sein. Was ist der Unterschied dabei? Das Herz – also die Motivation – des Handelnden.

Diesen Maßstab dürfen und müssen wir auch auf die Entscheidungen der staatlichen Verantwortungsträger anwenden.

Eine Kernfrage muss aus meiner Sicht also lauten: Mit welcher Absicht und Motivation hat der Staat gewisse Entscheidungen getroffen?

Wenn der Staat sich also in die freie Religionsausübung einmischt, handelt er dabei böswillig – also um den Kirchen bewusst zu schaden und ihnen mit böser Absicht engere Grenzen zu setzen? Oder handelt er aus einer prinzipiell guten Absicht heraus, weil eine akute Notsituation zunächst einmal schnelles Handeln erfordert, bis man sich eine bessere Übersicht verschafft hat?

Wenn es in einer Kirche brennen würde, würde man auch nicht sagen: „Bleibt erst einmal sitzen und macht mit dem Gottesdienst weiter, bis wir Klarheit darüber haben, wie schlimm die Situation ist.“ Das wäre absolut unverantwortlich. Stattdessen würde man den Gottesdienst abbrechen, die Besucher aus dem Haus bitten, die Feuerwehr rufen, den Brandherd ausfindig machen. Und wenn die Situation nicht so schlimm ist, wie gedacht, kann man u.U. den Gottesdienst fortführen.

Das ist für mich die Parallele zu der Situation, vor der unsere Regierung angesichts einer akuten pandemischen Ausnahmesituation stand. Die Regierung hat dabei die grundlegende Entscheidung getroffen, dass Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und das Grundrecht auf Leben für eine begrenzte Zeit über das Grundrecht auf Religionsausübung in der bisherigen Form zu stellen.

Dabei möchte ich die herausgehobenen Aussagen noch einmal betonen, weil sie für die Bewertung der Maßnahmen so wichtig sind: „für eine begrenzte Zeit“ und „in der bisherigen Form“.

Das totale Verbot der christlichen Versammlungen war von Anfang an für eine begrenzte Zeit geplant gewesen. Und es handelte sich nie um eine Verbot der christlichen Religionsausübung als Ganzes, sondern nur um bestimmte Manifestationen dieser Religionsausübung.

Auch die zur Zeit bestehenden Vorgaben für die Durchführung von Versammlungen sind keine Eingriffe ohne Präzedenz. Wir haben bereits gesehen, dass der Staat in Form von Bau- und Sicherheitsvorgaben schon immer Vorgaben für die Durchführung von christlichen Versammlungen gemacht hat, die dem Schutz des Lebens des Einzelnen dienen. Nur haben sich diese mit einem Mal so massiv verändert, dass wir erst lernen müssen, mit diesen neuen Vorgaben umzugehen.

Fazit: Locker bleiben

Bin ich glücklich über die massiven Einschnitte in unser Gemeindeleben? Nein. Bin ich der Meinung, dass der Staat zu jedem Zeitpunkt die richtigen Entscheidungen getroffen hat? Ganz sicher nicht.

Ich bin aber sehr wohl der Meinung, dass der Staat eine Berechtigung hatte, in dieser schwer einzuschätzenden Ausnahmesituation so drastische Maßnahmen durchzuführen. Und ich bin auch der Meinung, dass der Staat auch jetzt das Recht hat, enge Vorgaben dafür zu setzen, unter welchen Voraussetzungen religiöse Versammlungen durchgeführt werden können. Ich bin nicht der Meinung, dass der Staat sich dabei überreizt.

Unter folgender Voraussetzung!

Es muss eine sachliche Begründung für die neuen Rahmenbedingungen geben. Und sollten diese Begründungen keinen Bestand mehr haben, müssten sich auch die Rahmenbedingungen wieder ändern.

Hätten z.B. das totale Gottesdienstverbot für längere Zeit weiter bestanden, obwohl sich die Umstände verändert haben, wäre das zurecht nicht akzeptabel gewesen.

Aber gerade der Umgang mit dem Versammlungsverbot zeigt mir auf der anderen Seite, dass vieles noch in richtigen Bahnen läuft in Deutschland. Der Politik war bewusst, dass sie diese Einschränkung nicht unbegrenzt weiterführen konnten. Das Verfassungsgericht hat in einem Urteil vor der Freigabe der Versammlungen entschieden, dass ein pauschales, unbegründetes Verbot nicht zulässig ist.

Wir dürfen und sollen also kritische Beobachter der politischen Entscheidungen sein. Auf der anderen Seite dürfen wir der Politik auch einen zeitlichen Spielraum bei der Bewertung und Veränderung von Entscheidungen zugestehen. Ungeduld steht uns da nicht gut. Und wir dürfen auf die Mechanismen der Selbstkorrektur in unserer Demokratie vertrauen. Sie haben sich offensichtlich bewährt. Denn Demokratie bedeutet nicht, dass jede Entscheidung in jedem Moment richtig ist. Vielmehr bedeutet Demokratie, das die Chance besteht, dass Fehlentwicklungen im Laufe der Zeit wieder korrigiert werden. Dabei schlägt das Pendel mal zu sehr in die Eine, mal zu sehr in die Andere Richtung. Solange aber die Trendkurve stimmt, sind wir auf dem richtigen Weg.

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