„Nun aber schauen wir alle mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn“
1 Kor 3,18
Erst der Mensch, dessen Angesicht ganz aufgedeckt ist, ist ganz Mensch. Das wird greifbar an dem höchsten Punkt des Mensch-Seins: wenn Menschen das Angesicht Jesu Christi schauen dürfen. Das geht nur mit einem ganz aufgedeckten Angesicht. Wir sehen mit unseren Augen und wir könnten Dinge auch sehen, wenn unser ganzes Gesicht zugedeckt ist, nur unsere Augen nicht. Aber wenn wir nicht unser ganzes Gesicht dabei aufdecken, sind wir nicht als ganzer Mensch dabei bei unserem Sehen. Zum Sehen eines anderen – eines anderen Menschen, zum Sehen Christi – gehört auch, daß man sich von ihm sehen läßt und nichts an sich verstellt oder verbirgt. Erst dann bin ich voll als Mensch da in der Begegnung mit einem anderen, und erst in der Begegnung, in der offenen Begegnung mit aufgedecktem Angesicht bin ich voll Mensch. Ich lasse mich dann so sehen, wie ich den anderen sehen will: ganz, mit aufgedeckten Angesicht. Das gegenseitige Sich-Sehen, mit
aufgedecktem Angesicht, führt den Menschen erst in die Vollendung (1. Kor 13,12; 1. Joh 3,2b).
Das Verbergen des Angesichts ist ein Entstellen des Mensch-Seins. Adam verbirgt sich vor dem Angesicht Gottes (Gen 3,8). Er verbirgt damit auch sein eigenes Angesicht. Und Kain verstellt sein Angesicht (Gen 4,5), und Gott fordert ihn dazu auf, sein Gesicht zu zeigen.
Das Auge ist des Leibes Licht (Mt 6,22): was es sieht und wie es etwas sieht, bestimmt die Seele eines Menschen. Umgekehrt läßt das Gesicht, wenn man es ganz zeigt, den anderen sehen, was in einem ist. Offenheit des Angesichts ist Offenheit des Menschen, ist Einverständnis zur Begegnung und zum Miteinander, zur Begegnung und zum Miteinander von Mensch und Mensch und Mensch und Gott. Erst in dieser Offenheit ist der Mensch ganz Mensch.
Es ist also keine Lappalie, wenn ein Mensch sein Gesicht bedeckt und nur die Augenpartie noch freiläßt. Es ist ein hohes Gut, sein ganzes Angesicht anderen Menschen zeigen zu können, und es ist ein hohes Gut, wenn man das ganze Angesicht eines anderen Menschen sehen kann. Man muß sich dieses hohen Guts sehr bewußt sein und man muß es sorgfältig abwägen gegen andere Güter, wenn man sich überlegen will, sein Angesicht zu verhüllen. In der gegenwärtigen Situation geht es nicht darum, daß Gesundheit gegen das Gut des offenen Angesichts abgewogen wird. Es geht nicht um Gesundheit, sondern um ein Risiko, dem die Gesundheit ausgesetzt wird, wenn man sein Angesicht aufgedeckt läßt. Ich will jetzt nicht darauf eingehen, wie hoch dieses Risiko bei Alltagsbegegnungen ist, darauf, daß Ansteckungen etwas anderes sind als Erkrankungen, als ernsthafte Erkrankungen, und darauf, wieviel die Masken, die gewöhnlich getragen werden, überhaupt bewirken. Zu alledem gibt es sehr erhellende Feststellungen und Untersuchungen. Ich will hier nur davon sprechen, daß es darum gehen würde, ein hohes Gut zurückzustellen, wenn man sein Angesicht verbirgt und eine Maske aufsetzt. Es gibt Fälle, in denen das Risiko für die Gesundheit so hoch ist, daß man tatsächlich dieses hohe Gut zurückstellen muß: wenn Ärzte und Pfleger mit einer hohen Virenlast zu tun haben und wenn Menschen wirklich stark gefährdet sind.
In allen andern Fällen sollte man sich überlegen, ob nicht jeder einzelne Mensch und die Gemeinschaft der Menschen sehr viel verliert, wenn alle ihr Gesicht verdecken: ihre Menschlichkeit wird entstellt.
Gott hat uns dazu aufgerufen, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit auf dem Angesicht Jesu Christi zu schauen und widerzuspiegeln (2. Kor 3,18 und 4,6). Das muß auch die Gemeinschaft bestimmen, die wir Menschen untereinander haben.
Sven Grosse, Basel