Singen im Gottesdienst

Ein Kommentar aus dem schweizer Kontext von Pfr. Dr. Buchegger:

Jubelt, ihr Gerechten, dem HERRN,
den Aufrichtigen ist der Lobgesang Freude.
Singt dem HERRN ein neues Lied. (Psalm 33)

1. Ein kurzer Blick in die Kirchengeschichte

1. 1. Bibel und frühe Kirche

„Von Anfang an war die Christenheit eine singende Gemeinde.“ Heisst es im Evangelischen Gesangbuch (Württemberg 1996).

‚Von Anfang an’, heisst nicht, erst seit Beginn der christlichen Gemeinde. Die christliche Gemeinde hat das Singen empfangen aus dem Volk Israel des Alten Bundes. Nach der Befreiung aus Ägypten und der Errettung am Schilfmeer sang Mose mit dem Volk das Lied der Befreiung. Dabei spielte Mirijam mit vielen anderen Frauen dazu die Musik und tanzte. Die Befreiung wird besungen, sie muss besungen werden (Ex 15). Erst im Singen wird sie ins Herz geschrieben. Das Deuteronomium endet mit dem Lied des Mose (32). Es ist ein Loblied, das zugleich die Erinnerung an die Geschichte Gottes mit dem Volk vertieft und in die Herzen des Volkes einschreiben soll. Singen ist Lob Gottes und ein memorierendes Erinnern an die Grundlagen der Existenz des Volkes Gottes. Nicht zu vergessen die 150 Psalmen und viele andere Gesänge wie das Hohelied und die Klagelieder, die im Festkalender Israels ihren festen Platz haben.

Das setzt sich fort im Neuen Testament. „Das Wort Christi wohne mit seinem ganzen Reichtum unter euch: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit, singt Gott, von der Gnade erfüllt, in euren Herzen Psalmen, Hymnen und geistliche Lieder!“ (Kol 3, 16). In den Versammlungen soll gesungen werden. Eph 5, 19: „Lass in eurer Mitte Psalmen, Hymnen und Lieder erklingen, wie der Geist sie eingibt.“  Weitere Belege: 1 Kor 14, 16./ Röm 15, 5. Im neuen Testament finden wir zahlreiche Hymnen und Hymenfragmente. Das bekannte Lied auf Christus ist wohl Phil 2, 5-11.

Älteste heidnische Berichte über christliche Gottesdienste erwähnen dieses Element des Singens. Plinius berichtet Kaiser Trajan über die Christen, sie würden sich am Abend und am Morgen versammeln, um Christus in Liedern zu besingen. Es ist hier wohl mit Hymnen wie Joh 1 und Phil 2 zu rechnen. Betrachtet man diese Hymnen, so wird klar, dass hier Jesus, der Christus, als HERR (Kyrios) besungen wird. Gleichzeitig wird die Gemeinde auch unterrichtet in der apostolischen Lehre über Jesus und bekennt sich hörbar zu Jesus als dem HERRN. Letzteres ist auch eine Absage an alle Mächte und Menschen, die für sich diesen Titel usurpieren, allen voran der römische Kaiser.

Der Gesang wird in der frühen Kirche als geistliches Opfer verstanden, das die Gemeinde Gott darbringt, weil es nach dem endgültigen Opfer Christi keine kultischen Opfer mehr gibt (Psalm 50, 14). Vermutlich bestehen bereits in den ersten drei Jahrhunderten Sammlungen von Christushymnen. „Wieviele Psalmen und Lieder, die von Anfang an von gläubigen Brüdern geschrieben wurden, besingen Christus, das Wort Gott und verkünden seine Gottheit.“ (Eusebius, Kirchengeschichte)

Zusammenfassend kann man feststellen: Es gehören bereits zum frühchristlichen Gottesdienst Psalmen und Hymnen. Mit ihnen wird Jesus als HERR (Kyrios) besungen. Die Lieder sind teils in charismatischer Inspiration spontan entstanden. Psalmen wurden vermutlich aus der Bibel Israels übernommen. Dazu entstanden auch neue Lieder, die in den Gottesdiensten gesungen wurden. Der Gesang diente dem Lob Gottes, dem Bekenntnis und der Unterweisung im überlieferten, apostolischen Glauben. Die Gemeinde sang in einem gewissen Sinn auch unter den Augen/Ohren der heidnischen Umgebung und legte damit Zeugnis ab von Jesus, dem inkarnierten und erhöhten Herrn.

In Zeiten der Verfolgung waren die Lieder für die Christen eine grosse Stärkung. Sie zogen unter Gesang in die Arena ein, wenn sie den wilden Tieren vorgeworfen wurde. Besonderen Eindruck erregten die Christen auch mit ihrer Begräbniskultur, weil sie ihre Toten unter Psalmengesang in würdiger Weise bestatteten.

1. 2. Reformation

1.2.1. Martin Luther

Die Reformation hat sich vor allem singend ausgebreitet. Das gilt zunächst v.a. für die Lutherische Reformation. Die im Singen sich äussernde Gemeinde war offenbar ein hörbares Merkmal der Reformation gegenüber der bisher in der römischen Messe stumm anwesenden Gemeinde (Möller). Was öffnete der Gemeinde den Mund? Singen, das war für Luther wichtig, soll im Zusammenhang mit der Verkündigung des Wortes geschehen. Sonst ist es Leerlauf und ein blosses Blöken, ein Geplärr.

„Euangelion ist ein griechisches Wort, und heisst auf deutsch gute Botschaft, gute Mär, gute Neuzeitung, gutes Geschrei, davon man singet, saget und fröhlich ist.“ (Vorrede Septembertestament 1522).

Kirchenmusik bringt das Evangelium zum Leuchten. Das Evangelium ist kein papiernes Lesewort. Die frohe Botschaft von Jesus Christus ist ein sinnliches Klangereignis. Bei Luther steht das Singen sogar oft prominent vor dem Sagen!

Als klingendes Wort Christi lädt die Kirchenmusik Menschen zum Glauben ein, tröstet und vergewissert. Lobend und klagend, dankend und flehend gibt sie dem dreieinigen Gott die Ehre.

Schon Augustinus soll gesagt haben: „Doppelt betet, wer singt.“

„Singet dem Herrn ein neues Lied. Denn Gott hat unser Herz und Mut fröhlich gemacht durch seinen lieben Sohn, welchen er für uns gegeben hat zur Erlösung von Sünden, Tod und Teufel. Wer solches mit Ernst glaubt, der kann’s nicht lassen, er muss fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, dass es andere auch hören und herzukommen.“ (Luther, Vorrede zum Babstschen Gesangbuch 1545)

Im Weihnachtslied dichtet Luther: „Vom Himmel hoch, da komm ich her, ich bring euch gute neue Mär, der guten Mär bring ich so viel, davon an singen und sagen will.“ (ERG 394. ‚Mär’ ist das altdeutsche Wort für ‚Botschaft’).

1.2.2. Zwingli

Zwingli lehnte den Kirchengesang ab. Es gehört zum Merkwürdigsten der Reformationsgeschichte, dass der hoch musikalisch gebildete Zwingli das anordnete. Es war wohl eine Reaktion auf den mittelalterlichen liturgischen Gesang. Selbst schuf Zwingli aber Kirchenlieder, wie ERG 792 (Herr, nun selbst den Wagen halt) oder sein Pestlied 713. Er wollte der Haltung widerstehen, Gesang als verdienstliches Werk zu verstehen. Sein Nachfolger Bullinger liess den Gemeindegesang zu, sofern er nicht gregorianisch erfolgte. Aktiv förderte er ihn nicht. (2. Helv. Bekenntnis XXIII)[1]

1.2.3. Calvin

Neben Wittenberg waren weitere Liedzentren Konstanz und Strassburg, wo auch Calvin zu eigenen biblischen Dichtungen auf Strassburger Melodien angeregt wurde (Möller). Nach Genf zurückgerufen, führte Calvin 1542 den Kirchengesang mit einem Psalmlied vor und nach der Predigt ein. Allmählich entstand ein vollständiger Liedpsalter. Ambrosius Lobwasser übertrug den Genfer Liedpsalter in die deutsche Sprache und so breitete er sich auch in Deutschland aus.

Möller: „Auf diese Weise wurde das geistliche Singen zu einem unverzichtbaren Element des evangelischen Gottesdienstes, denn die Lieder gewannen eine liturgische Funktion und machten die singende Gemeinde zum Subjekt des gefeierten Gottesdienstes.“

Seit dieser Zeit sind unzählige Lieder für den gottesdienstlichen und häuslichen Gebrauch entstanden. Bis ins 19. Jahrhundert sang in den reformierten Gottesdiensten a Capella und das in einer Qualität, die bewundert wurde.

2. … Davon ich singen und sagen will

Singen und Sagen. Das Evangelium von Jesus Christus ist nicht bloss ein Gedanke, ein Begriff oder eine theologische Formel: Es ist ein Geschehen, ein klingendes Geschehen, ein fröhliches Geschrei, wie Luther sagt. Ohne Singen wird aus der Kirche des Wortes (Gottes) eine Wörterkirche (Möller). Eine Inflation der Wörter treibt die Menschen aus der Kirche hinaus und lässt die verbleibende Gemeinde zunehmend resignieren.

– Singen der Gemeinde im Gottesdienst:

Der gewichtigste Teil des evangelischen Gottesdienstes, ist der Gemeindegesang. Ohne das Singen wäre die aktive Gemeindebeteiligung am Gottesdienst nur sehr marginal. In einer sorgfältigen Liturgie wird die Gemeinde angeleitet, singend den Weg durch den Gottesdienst zu gehen.

Das Evangelisch-reformierte Gesangbuch bietet hier eine Fülle von Anregungen. Neuere Lieder ergänzen den Schatz der alt vertrauten Lieder.

– Anbetung Gottes: Singend betet die Gemeinde Gott an. Loblieder lenken die Gedanken von sich weg auf den dreieinigen Gott.

– Ekstase, wörtlich „aus sich herausgehen“. Im Singen können wir heraustreten auf den Grenzen der Trostlosigkeit und Anfechtung in den Raum des Trostes.

– Prophetische Dimension. Im Lied bekennt die Gemeinde den Kyrios Jesus und bekennt die wahren Herrschaftsverhältnisse: Jesus Christus herrscht als König. König ist der Herr, Völker gebt ihm Ehr.

– Bekennen: Viele Lieder sind Bekenntnisse. Wenn bedauerlicherweise in vielen Kirchgemeinden das Apostolicum nicht bekannt wird, so bekennt die Gemeinde wenigstens in den Lieder den Glauben an den dreieinigen Gott.

– Gegenseitige Erbauung: Im Gottesdienst singen die Christen einander zu. Das ist die parakletische Funktion des Gesangs.

Die Gemeinde trägt das Singen aus dem Gottesdienst hinaus in die Familie; an die Krankenbetten; in die Abdankungen, in denen sich die christliche Gemeinde vom Tod nicht dem Mund verbieten lässt. Singend wird hier etwas Lebendiges gegen den Tod gesetzt durch das gemeinsame Singen.

Chor und Vorsänger additiv. Ein Chor singt der Gemeinde das Lied zu. Im Gottesdienst wirkt der Chor als Teil der Liturgie. Er gibt kein Konzert. Auch ein Vorsänger, wie er jetzt vorgeschlagen ist, kann den Gemeindegesang nicht ersetzen. Der Gesang muss in der Hauptsache bei der Gemeinde sein. Allzugross wäre sonst die Versuchung eines rein ästhetischen Genusses auf seiten der Gemeinde und der Selbstdarstellung auf seiten der Vorsänger.

Weil laut Anordnung von Bund und EKS der Gesang in der Advents- und Weihnachtszeit verboten wird, einige Gedanken zum Gesang an Weihnachten. Wenn irgendwo, dann erklingt das Evangelium in Liedform an Weihnachten. Weihnachten ohne Gesang ist unvorstellbar. Lukas berichtet, wie Zacharias und Maria gesungen haben. Die Engel jubilieren bei der Geburt. Was auf Erden geschieht, wird im Himmel singen begleitet. Auch unsere traditionellen Weihnachtslieder fordern zum Singen auf: (Nummer nach ERG)

385: Nun singet und seid froh

387: Singet frisch und wohlgemut

388: Die Engel singen: Gott ist da. Ohn Ende fern und nah, klingt es: Gloria

389: Hört, es singt und klingt mit Schalle

392: Gelobet seist du Jesu Christ

394: Vom Himmel hoch, da komm ich her….davon ich singen und sagen will

395: Lobt Gott, ihr Christen alle gleich

397: Uns ist geborn ein Kindelein, nun lasst und fröhlich singen

400: Fröhlich soll mein Herze springen (Ein Lied, das einander zugesungen wird)

403: Singet fröhlich

404: Jauchzet, ihr Himmel, frohlocket, ihr Enden der Erden

Das Evangelium ist ein Geschehen, das Jubeln und Singen hervorruft. Ist die Predigt manchmal schwach oder moralistisch, dann wenigstens verkündigen die Lieder das Evangelium. An Weihnachten 2020 darf nicht gesungen werden. Das ist ein riesiger Verlust. Es stellt sich die ernste Frage, ob hier nicht Gottes Ehre gegen eine säkulare Gesundheitsreligion eingetauscht wird.

3. Folgerungen für die Kirche heute

Seit Beginn der sog. Corona Pandemie unterwirft sich die Kirche den Verordnungen des Staates. Dies führte zur Einstellung der Gottesdienste (im Lockdown) und nach Wiedereinführung der Gottesdienste zu einem Eingriff des Staates in die Gestaltung des Gottesdienstes. Es ist einmalig in der Kirchengeschichte, dass sich die Kirche in diese Einmischung des Staates ohne Fragen fügt. Nirgends melden sich gewichtige Stimmen von Kirchenleitungen und Theologen, die diese massive Einmischung theologisch werten und in Frage stellen. Man fühlt sich an den Titel von Luthers Schrift: „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“ erinnert, nur jetzt einer Gefangenschaft innerhalb des Staates und nicht der römischen Kirche.

So geschah es 2020, dass Ostern ohne Gottesdienste und Osterlieder gefeiert wurde. Kann man überhaupt noch von „feiern“ sprechen? Die Gemeinde durfte nicht zusammen die Auferstehung Jesu feiern und besingen. Digitale Vermittlung ist kein Ersatz.

Erst auf Intervention der katholischen Bischöfe durfte erstmals nach Pfingsten wieder gesungen werden. Nun soll seit Ende Oktober die versammelte Gemeinde wieder gänzlich schweigen. Sie darf nicht singen davon, dass mitten in dieser Welt des Aufruhr und der Angst Jesus Christus als König regiert (ERG 492). An Weihnachten darf sie die gute Nachricht der Geburt Jesu nicht besingen. Der Gesang der Engel, welche die Geburt des Erlösers verkündigen (Luk 2, 13-14) und vom Thron Gottes her Christus das Lamm Gottes besingen (Off 5,9ff), darf auf Erden von der Gemeinde nicht aufgenommen werden. „Das, was mich singen machet, ist, was im Himmel ist.“(ERG 656). Nein, die Gemeinde darf nicht mehr singen. Es ist rätselhaft und verstörend, dass die Evangelische Kirche Schweiz (EKS) eine solche Verordnung vom Staat geradezu verlangt hat und die kantonalen Kirchenleitungen diese Verordnung übernommen haben. Was sie den Gemeinden damit an Schaden zufügen, wird bereits sichtbar. Die Menschen bleiben weg von den Gottesdiensten. Die Zahl der Gottesdienstbesucher hat massiv abgenommen. Dass das persönliche geistliche Leben stark unter alledem leidet, die Individualisierung zunimmt und der Säkularisierung der Kirche Vorschub geleistet wird, wird noch an den Tag kommen. Eine zum Schweigen verurteilte Kirche, die das einfach hinnimmt, hat es noch nie gegeben. Selbst in Zeiten der Verfolgung hat die Kirche gesungen – manchmal unter Todesgefahr. Warum lässt sie sich heute den Mund verbieten? Gehorcht sie damit den Menschen mehr als Gott?

„Ich singe dir mit Herz und Mund,

Herr, meines Herzens Lust;

Ich sing und mach auf Erden kund,

was mir von dir bewusst.“ (P. Gerhardt 723, 1)

D. Bonhoeffer (1936) „Kein Blick in die Zukunft steht uns offen, es sei denn der eine auf den Jüngsten Tag. So sind wir wieder freigemacht zu loben und zu singen.“

Literaturangaben

Christian Möller, Der heilsame Riss, Stuttgart 2003

Christian Möller (Hrsg.), Kirchenlied und Gesangbuch, Tübingen 2000

Eckstein/Heckel/Weyel (Hrsg., Kompendium Gottesdienst, Tübingen 2011

ERG: Evangelisch-reformiertes Gesangbuch

Pfr. Dr. Jürg Buchegger

25. November 2020


[1] 2. Zu Zwingli’s Ablehnung des Gesangs noch ein Zitat aus Gotthard Schmid, Die Evangelisch-Reformierte Landeskirche des Kantons Zürich, Zürich 1954, 67f.:

„Der Kirchengesang befand sich gerade zu Anfang des 16. Jahrhunderts in einer deutlichen Krise. Leo Weisz bringt dafür zwei Zeugnisse bei. Kardinal Capranica äussert sich: ‚Wenn sie da zusammen singen, kommen sie mir vor wie ein Sack voll kleiner Schweine – denn ich höre wohl einen furchtbaren Lärm und ein Quicken und Schreien durcheinander, kann aber nicht einen einzigen artikulierten Laut unterscheiden.‘ Ein anderes Urteil lautet: ‚Die Sänger setzen ihr ganzes Verdienst darein, dass in demselben Augenblick, wo der eine Sanctus sagt, der andere Sabaoth singt und ein dritter Gloria ruft, und dieser Wirrwarr ist dann von einem Geheul und Knurren begleitet, welches eher dem Geschrei der Katzen im Januar gleicht als den duftenden Blumen des Maimonats.‘ Wenn wir diese Zeugnisse hören, wird uns Zwinglis Stellungnahme begreiflich. Er weiss, warum er sich in der Auslegung der Artikel der Zürcher Disputation auf Amos 5,3 beruft und erklärt: ‚Es widerspricht dem menschlichen Gemüt, dass man in grossem Getöse und Lärm sich dem Nachdenken und der Andacht hingeben könnte.‘ So wurde in Zürich der Altargesang 1525 eingestellt und die Orgel im Grossmünster, die von 1524 weg nicht mehr gebraucht wurde, 1527 abgebrochen.“ (Hinweis von B. Kilchör)