Ewigkeit und Gesundheit

Überlegungen ausgehend von Ps 90,12:
Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden.
Warum ist es richtig zu bedenken, daß wir sterben müssen? Erstens, kann man sagen: weil das die Realität ist. Es ist richtig, sich der Realität zu stellen. Dieser Psalmvers behauptet aber noch darüber hinaus etwas: wir Menschen würden dadurch klug werden. Warum?
Der Psalm 90 weist eine Grenze auf und er stellt auf den beiden Seiten der Grenze einander gegenüber: den Menschen, der sterblich ist und stirbt – und Gott, der ewig ist (V.1-10). Es ist Klugheit, diese Grenze zu erkennen. Diese Grenze weist dem Menschen seine Beschränkung auf. Sie weist aber auch auf, was jenseits dieser Grenze ist: Gott in seiner Ewigkeit. Es ist Klugheit – mehr noch: Weisheit – zu erkennen, daß es einen Gott gibt und daß er von Ewigkeit zu Ewigkeit existiert.
Wir werden dadurch klug: weil wir damit erkennen, wie wir mit den Dingen diesseits dieser Grenze umgehen müssen: mit den Gütern unseres Lebens, das mit dem Tod endet.
An den Tod zu denken, weist Prioritäten auf: was ist am wichtigsten? Am wichtigsten ist Gott. Denn er allein ist ewig: Ps 90,2-4. Er ist darum auch unsere letzte, unsere letztgültige Zuflucht: Ps 90,1b.
Nur Gott selbst kann sagen, daß er den Menschen „das Leben und volle Genüge“ bringen kann (Johannes 10,11), weil er allein ewig ist.
Wenn wir Menschen diese Spitze unserer Prioritäten nicht mehr sehen, dann verschiebt sich alles und gerät in Unordnung, auf Kosten auch von uns Menschen.
Ein Beispiel: unsere Gesundheit. Sie ist ein Gut. Das heißt: es ist richtig, Gesundheit zu wollen.
Gesundheit zu erhalten und wieder zu erringen nach Möglichkeit, für sich und für andere.
Aber: Gesundheit ist nicht das oberste Gut. Das zeigt sich schon daran, daß dieses Gut auf jeden Fall einmal zerfällt (Ps 90,5ff). Dabei zeigt sich, daß Gesundheit nicht dasselbe ist wie die Verlängerung von körperlichen Funktionen, die zu einem gesunden Leben gehören, wenn der ganze Mensch gesund sein soll, die aber auch ohne die Gesundheit des ganzen Menschen noch eine Weile weiterlaufen können. Ein Beispiel: man verbietet es einem alten Menschen, Besuch zu empfangen, weil eine Pandemie ausgerufen worden ist. Man kann dadurch – mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit – bewirken, daß dieser Mensch nicht von einem Virus angesteckt wird und daran stirbt. Dieser Mensch hat aber – mit einer ähnlichen Wahrscheinlichkeit – nur noch wenig Zeit zu leben, weil er schon so alt ist. Man verlängert sein Leben, aber man nimmt seinem Leben die Erfüllung, die es als endliches und endendes Leben noch haben könnte, weil es durch das Miteinander mit vertrauten und geliebten Menschen erfüllt wird. Je mehr sein Leben eingeschränkt wird, desto weniger kann man das noch Gesundheit nennen, was dadurch erhalten wird.
Gesundheit ist aber dann auch deswegen nicht das oberste Gut, weil es auch andere Güter gibt. So gibt es Freiheit: Freiheit der Religionsausübung –  daß Menschen sich in Kirchen treffen und Gottesdienst nach den Überzeugungen ihrer Religion feiern können – , Freiheit der Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit, Freiheit, sein Gesicht zu zeigen. Und es ist auch ein Gut, Erwerbstätigkeit auszuüben, dadurch zu ermöglichen, daß sie etwas haben und ihr Hab und Gut erhalten.

Das alles sind verschiedene Güter, und man muß sie wohlüberlegt in eine Ordnung setzen, in der sie miteinander bestehen. Diese Ordnung ist nur dann gegeben, wenn das höchste Gut anerkannt ist:
„Aber das ist meine Freude, daß ich mich zu Gott halte und meine Zuversicht setze auf den Herrn“ (Ps 73,28) und: „Wenn ich dich nur habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde.“ (Ps 73,25) Das hat nun Konsequenzen für Christen und für Nicht-Christen. Wenn in einer Gesellschaft nicht die Ausrichtung auf die Ewigkeit da ist, dann geraten auch all diese diesseitigen Güter durcheinander. Dann kann es geschehen, daß die Gesundheit beansprucht, das oberste Gut zu sein, obgleich sie es offensichtlich nicht ist. Und sie drängt dann andere Güter an den Rand, die doch auch Güter sind. Es erweist sich dann schließlich auch, daß das, was man Gesundheit nennt, aufhört, Gesundheit zu sein, weil man die anderen Güter an den Rand gedrängt hat. Wir haben das an dem Beispiel des alten Menschen gesehen, dem das Gut verweigert wird, mit vertrauten Menschen Umgang zu haben, aus dem Grund, man wolle seine Gesundheit erhalten.
Es ist die Aufgabe der Christen, zu dem zu stehen, was Gott ihnen zusagt: Gott, du bist unsere Zuflucht auf Ewigkeit (Ps 90,1b). Dadurch helfen sie aber auch allen anderen Menschen in ihren diesseitigen Verhältnissen. Das würde auch in unsere Gesellschaft wieder Ordnung bringen.
Sven Grosse
Basel