Wir hatten mit dieser Seite nie das Ziel, den Inhalt des christlichen Glaubens selbst, das Evangelium zu thematisieren. Man könnte das machen. Die Epidemie führt uns neu vor Augen, dass wir als Menschen abhängig sind, dass unsere eigenen Leistungen und Sicherungssysteme aber kein festes Fundament liefern. Wie sehr bietet es sich da an, neu auf die frohe Botschaft von der Erlösung durch Jesus Christus hinzuweisen – auf den festen Grund in stürmischer Zeit!
Glücklicherweise gibt es bereits viele Leute, die auf diese frohe Botschaft im Zuge der Corona-Krise neu aufmerksam gemacht haben. Der amerikanische Pastor John Piper etwa schrieb noch Ende März das Buch Corona and Christ, zwei Wochen später war es ins Deutsche übersetzt und ist seitdem online frei verfügbar.1
Wir haben uns eher auf eine Analyse der Folgen konzentriert und gefragt, was die Kirche in dieser Zeit lernen kann, wie sie handeln soll. Je mehr ich mich allerdings mit den Antworten auf unsere aufgeworfenen Fragen beschäftigt habe, desto mehr wurde mir klar, dass ein bewusstes Besinnen auf das Evangelium auch für diese Themen nicht nur Sinn macht, sondern notwendig ist.
Das Evangelium ist nicht alles und beeinflusst doch alles
Was ist das Evangelium aber genau? Diese Frage wurde gerade in letzter Zeit wieder stark diskutiert. Greg Gilbert widmet ihr ein ganzes Buch.2 Er kommt zu dem Schluss, dass das Evangelium im engeren Sinn „den Sühnetod und die Auferstehung Jesu und den Ruf an alle Menschen, umzukehren und an ihn zu glauben“3 bezeichnet. Mit Verweis auf Gilbert und der Vielschichtigkeit der Frage will ich mich hier auf diese kurze Definition beschränken.
Klar wird damit: Das Evangelium ist nicht alles. Das klingt banal, scheint mir aber im Hinblick auf die Diskussionen um Corona von Brisanz: Welche Einstellung man als einzelner Christ oder als Gemeinde zu Gottesdienstformen, zu sozialem oder zu politischem Engagement hat, betrifft nicht direkt das Herzstück des christlichen Glaubens.
Doch obwohl das Evangelium nicht alles ist, hat es doch auf alles Einfluss. Lesslie Newbigin hat es griffig formuliert: „Die christliche Geschichte liefert uns Brillengläser, die wir nicht ansehen, sondern durch die wir schauen sollen.“4
Wer zum Glauben an Jesus Christus kommt, für den verändern sich alle Vorzeichen der eigenen Weltsicht. Das Evangelium ruft zu einem ganz neuen Lebensstil auf, es kann kein Lebensbereich von diesen Folgen ausgeschlossen werden.
Das Evangelium bietet mehr als nur einen Mittelweg
Ich will das noch schärfer fassen: Wie sieht dieser radikale Vorzeichenwandel, dieser Blick durch ganz neue Brillengläser genau aus?
Wir haben als Menschen – ohne das Evangelium zu kennen – nur die Wahl zwischen zwei Extremen: Entweder versuchen wir, vor Gott gerecht dazustehen, uns an seine Gebote zu halten und aus eigener Kraft Rechtfertigung zu erlangen; oder aber, wir scheren uns nicht um seine Gebote, weil wir an gar keinen Gott oder an einen Gott der Liebe glauben, der sowieso nicht mit Strafe und Verurteilung auf unser Handeln reagiert. Mann kann diese zwei Extreme kurz als Legalismus und Relativismus bezeichnen und auf einer Skala darstellen:5
Das Evangelium bietet nun nicht einfach die ausgewogene Mitte auf dieser Skala – hier ein bisschen Einhaltung von Normen, dort ein wenig Verlassen auf Gottes Gnade. Es bietet einen radikal anderen Weg, der beide Seiten paradoxerweise zusammenbringt und damit doch beide Extreme negiert.
Für die Seite des Legalismus gilt: Ja, der Mensch muss alle Gebote einhalten, um vor Gottes gerechtem Urteil bestehen zu können; aber nein, der Mensch schafft das aus sich heraus nicht ansatzweise.
Und für die Seite des Relativismus gilt: Nein, Gott ist gerecht und kann über Sünde nicht einfach mit Liebe hinwegsehen; aber ja, durch den Sühnetod Jesu ist uns alles vergeben.
Daraus ergibt sich ein neuer Umgang mit dem Gesetz, den Paulus kurz und griffig in Römer 12,1 zusammengefasst hat: „Ich habe euch vor Augen geführt, Geschwister, wie groß Gottes Erbarmen ist. Die einzige angemessene Antwort darauf ist die, dass ihr euch mit eurem ganzen Leben Gott zur Verfügung stellt und euch ihm als ein lebendiges und heiliges Opfer darbringt, an dem er Freude hat.“
Den ganzen Leib Gott zur Verfügung zu stellen – in gewisser Weise fasst das die extreme linke Seite der Skala in Worte. Wir sollen ganz nach Gottes Gefallen zu leben versuchen, aber eben nicht, um Gerechtigkeit zu erlangen, sondern weil wir Gottes Erbarmen erfahren haben.
Das Evangelium bringt hier zwei Pole zusammen, die sich doch eigentlich gegenseitig abstoßen. Das ist der radikale Vorzeichenwandel, das sind die neuen Brillengläser, durch die wir auch alle anderen Lebensbereiche betrachten müssen.
Thema Streitkultur: Zwischen kontroversem Widersprechen und liebender Annahme
Wir haben hier viel über den Umgang mit konträren Meinungen diskutiert. Immer wieder traten dabei zwei Seiten einer Skala zum Vorschein: Wir müssen den anderen annehmen, in Diskussionen demütig sein; und: Wir müssen zur Wahrheit stehen, müssen mutig unser Wort erheben.
Erneut ist aber der Weg, der sich durch das Evangelium ableiten lässt, nicht einfach ein Mittelweg, ein Kompromiss aus den beiden extremen Positionen. Vielmehr müssen die beiden Pole in ihrer Radikalität zusammengebracht werden:
„Genauso, wie der Herr euch vergeben hat, sollt auch ihr einander vergeben“ (Kolosser 3,13). Jemandem so zu vergeben, wie Gott vergibt – das fasst die rechte Seite der Skala in Worte. Wir sollen nicht nur ein wenig lieben, ein wenig annehmen und vergeben, sondern radikal und ohne Kompromisse. Gleichzeitig gilt allerdings ohne Abstriche, dass wir für die Wahrheit einstehen sollen, so wie auch das Evangelium nicht kompromittierbar ist.
Versucht man diese zwei Extreme in der Praxis anzuwenden, mag es oft so wirken, als ginge man einen Mittelweg: Manchmal setzt man sich für die Wahrheit ein, widerspricht und erhebt sein Wort, andere Male zeigt man sich demütig, nimmt den anderen mit seiner konträrer Meinung unwidersprochen an. Doch nur das Evangelium liefert ein geeignetes Zentrum für solch ein Handeln. Auch im Falle des Widerspruchs gilt das Liebesgebot weiter in vollem Maße, im Falle der demütigen Annahme gilt das Gebot zur Wahrheit zu stehen ohne Kompromisse.
Thema Kirchliches Engagement: Zwischen Pflichterfüllung und vollkommener Freiheit
Auch das Thema Gottesdienst und gemeindliche Veranstaltungen – oder besser gesagt: fehlende Gottesdienste und Veranstaltungen wegen Corona – hat uns hier viel beschäftigt.
Mich hat besonders der Text von Genadi Kimbel zum Nachdenken gebracht.6 Er beschreibt seine Beobachtung, dass viele Gemeindemitglieder Corona als Entbindung von Pflichten wahrgenommen hätten: Endlich nicht mehr jeden Sonntag zum Gottesdienst kommen müssen, den Chor leiten, im Bibelkreis mitdenken, bei diakonischen Diensten helfen… Er empfiehlt unter anderem, dem christlichen Hyperaktivismus entgegenzuwirken und zudem die Gemeinschaft und Partizipation innerhalb von Veranstaltungen zu fördern.
So gut ich diese Empfehlungen finde, scheint mir hier doch das Entscheidende von Genadi Kimbel nicht aufgedeckt worden zu sein (ich bin zuversichtlich, dass unsere Freundschaft durch diese direkte Kritik nur gestärkt wird): Hinter der Erleichterung, endlich nicht mehr den ganzen gemeindlichen Verpflichtungen nachkommen zu müssen, verbirgt sich ein christlich getarnter Legalismus, eine neue Gesetzlichkeit.
Auch in diesem Fall lässt sich also eine Skala zeichnen:
Und es gilt wieder: Das Evangelium leitet nicht einfach zum Mittelweg an, also zu etwas weniger Veranstaltungen und einer Entzerrung der Verpflichtungen. Ganz im Gegenteil, Paulus ruft die Christen in dem bereits zitierten Vers Römer 12,1 dazu auf, sich mit ihrem ganzen Leben Gott zur Verfügung zu stellen. Also keine Entspannung, sondern völlige Hingabe.
Natürlich muss sich diese Hingabe nicht unbedingt im Engagement bei Gemeindeveranstaltungen ausdrücken. In manchen Fällen dienen solche Veranstaltungen nämlich tatsächlich zu nicht viel mehr, als ihre Teilnehmer beschäftigt zu halten. Gerade in solchen Fällen tut eine Beseitigung von christlichem Aktivismus Not.
Einem Christen aber, bei dem sich zunehmend die Vorstellung eingeschlichen hat, er müsse gemeindlichen Verpflichtungen treu sein, um seine Erlösung zu verdienen, dem muss neu die Erlösung in Christus und die daraus erwachsende Freiheit vor Augen geführt werden.
Thema Politik: Zwischen Widerstand und Ergebung
Ich habe hier Anfang Mai den Textreigen eröffnet und über das Verhältnis von Politik und christlichem Glauben nachgedacht.7 Schon damals habe ich die zwei Seiten einer Skala benannt: Unterordnung unter die staatliche Gewalt und Widerstand gegen dieselbe.
Zugegeben: Hier liegt eine Parallelziehung zum Evangelium nicht auf der Hand. Im Neuen Testament wird eine deutliche Parallele zwischen der Beziehung von Christus zur Gemeinde und zwischen der Beziehung von dem Mann zur Frau in einer Ehe gezogen (Epheser 5), allerdings nicht zwischen dem Gläubigen und dem Staat. Die entwickelte Skala lässt sich also eins zu eins auf die Ehe- und Familienordnung übertragen, nicht aber auf die staatliche.
Ist es aber nicht trotzdem auffällig, dass Paulus an der einen Stelle (Römer 13) zur Unterordnung unter die staatliche Regierung aufruft, weil sie von Gott eingesetzt sei (eine ultimativere Aussage über den Staat ist kaum denkbar), während doch gleichzeitig immer wieder deutlich wird, dass jede staatliche Gewalt eine menschliche und damit mangelhafte ist?
Ich meine also, dass es auch in diesem Fall richtig ist, von einem Paradoxon zu sprechen, von zwei Polen, die zusammengebracht werden müssen: Wir sind dazu aufgerufen, uns ganz dem Staat unterzuordnen, seine von Gott verliehene Autorität zu respektieren, während wir doch gleichzeitig ganz kritisch bleiben müssen:
Auch hier mag das praktische Handeln von außen nach einem Kompromiss aussehen. Aber nur der Fokus auf Christus als demjenigen, der Regierungen einsetzt und gleichzeitig über sie thront, verschafft das rechte Fundament und Zentrum für solch ein Handeln.
Gegen Kompromisse, für neue Radikalität
Wer das Zentrum in Christus verliert, dessen Kurs gerät ins Schlingern. Man sucht dann in allen Dingen nach einem Kompromiss, nach einem Mittelweg. Man schlingert zwischen Gesetz und Gnade, zwischen kontroversem Widerspruch und liebender Annahme, zwischen Widerstand und Ergebung hin und her.
Nur das Fundament des Evangeliums bietet die Grundlage, um mit vollster Überzeugung nach Gottes Willen leben zu wollen, während man sich gleichzeitig ganz auf die Gnade verlässt. Es ruft uns zu einer völligen Hingabe auf, mahnt uns allerdings davor, dadurch vor Gott bestehen zu wollen. Es leitet dazu an, für die Wahrheit einzustehen und dabei trotzdem das Gegenüber zu lieben. Es ruft zu vollem Widerstand und zu völliger Ergebung auf.
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ist Sozialarbeiter und Theologe. Seit diesem Jahr arbeitet er als Entwicklungshelfer im Nahen Osten. Von dort behält er die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Europa wachsam im Auge. Daneben ist er passionierter Radfahrer und schreibt darüber auf seinem eigenen Blog.
Benjamin ist Teil des Teams von Kirche & Corona.
Fußnoten
- https://www.evangelium21.net/media/1966/corona-und-christus
- Greg Gilbert, Was ist das Evangelium?, 3 L-Verlag, 2011
- https://www.evangelium21.net/media/1258/was-ist-das-evangelium
- Lesslie Newbigin, The Gospel in a Pluralist Society, Eerdmans 1989
- Timothy Keller zeichnet eine solche Grafik in seinem Buch Center Church, Brunnen-Verlag 2017 (deutsche Ausgabe)
- https://kirche-und-corona.de/mir-gehts-gut-im-shutdown-ist-das-schlecht/
- https://kirche-und-corona.de/widerstand-oder-ergebung/