Corona, Corona, Corona. Jeder redet drüber, jeder weiß etwas dazu, jeder hat eine Meinung. Das Wetter hat als Smalltalkthema keine Chance mehr. Die Nachrichten und Portale sind (noch) übervoll damit – und ja: auch wir auf diesem Blog leisten dazu einen Beitrag. Für manchen ist die übermäßige Beschäftigung mit den ständigen Artikeln, Statistiken und Forderungen welcher Seite auch immer schon eine starke psychische Belastung. Wir müssen unserer Fixierung auf ein Thema Grenzen setzen, wenn wir psychisch gesund bleiben wollen. Und trotzdem sollten wir uns dem Thema auch nicht aus einer gewissen “Corona-Müdigkeit” ganz verschließen.
Warum also solltest Du über Corona nachdenken und die Phänomene unserer Zeit beobachten, wenn sowieso schon alles von diesem Thema überflutet wird? Zwei Ansätze:
- Gerade, weil wir mit Informationen bombardiert werden, müssen wir selber über die Dinge nachdenken lernen, sonst werden wir nur mit dem veröffentlichten Strom der Gedanken mitgerissen (das gilt für etablierte Medien genauso wie für alternative Kanäle).
- Gerade, weil sich momentan alles um Corona dreht, müssen wir durch Corona über Corona hinausdenken. Denn Corona an sich ist ja nur ein kleiner Ausschnitt unserer Welt: sowohl inhaltlich als auch (hoffentlich) zeitlich begrenzt. Deshalb sollten wir Corona als Chance begreifen, über Dinge nachzudenken, die schon vorher unser Leben beeinflussten und nun zutage treten.
Der Corona-Kristall
Ein Kristall ist eine geniale Metapher für etwas, was wir positiv aus der Beobachtung unserer aktuellen gemeinschaftlichen Erfahrung gewinnen können.
Was ein Kristall ist (und wie er entsteht)
Als Kind hatte ich einen Naturwissenschaft-Baukasten, mit dem man Kristalle züchten konnte. Kristalle bestehen aus Mineralien oder Salzen, die zu einer genialen Form erstarren. Dabei hängt man einen Fremdkörper in eine Lösung mit diesen Inhaltsstoffen. Durch Verdunstung erhöht sich die Mineral-Konzentration und es lagern sich immer mehr der Minerale am Fremdkörper ab.
Unsere normale Realität war bis vor zwei Monaten (mehr oder weniger) flüssig. Corona ist so ein Fremdkörper und eine Verdunstung in unserem Leben. Es stört unseren normalen Fluss, es entzieht uns unsere normale Substanz. Es lagert sich deshalb auf einmal etwas ab, das man beobachten kann.
Ich lade Dich nun zu einem Gedankenexperiment ein: Was wäre, wenn – wie beim Fremdkörper und dem Kristall – nicht aus Corona ist, was da an Corona wächst?
Oder anders: Corona ist nur der Auslöser, die Probleme (außerhalb der gesundheitlichen Fragen), die wir beobachten, waren schon vorher in unserer „Minerallösung” vorhanden. Es tritt nur das Zutage, was schon vorher in unserem privaten Leben, in unseren Gemeinden und in unserer Gesellschaft enthalten war – vielleicht auch unbemerkt, weil genug Lösungsflüssigkeit da war.
Was kristallisiert sich für Dich persönlich?
Wenn wir so unsere Situation betrachten: Gefällt uns eigentlich, was da sichtbar wird? Einiges Gute wirst Du sicher entdecken können: Hilfsbereitschaft unter Nachbarn, die man vorher vielleicht eher weniger kannte. Den Wert der Familie. Diese Liste kannst Du für Dich viel besser führen. Das ist auch eine Übung, die uns allen guttut.
Aber wir werden auch Dinge entdecken, die uns gar nicht gefallen: Streitlust und Konflikte in der Familie, die vorher vielleicht durch Beschäftigung außer Haus vermieden wurde. Offenbarungen meines eigenen Charakters, die wegen der fehlenden Routine zutage treten. Es mag hart sein, sich solche Dinge einzugestehen, aber jetzt ist die Gelegenheit da, wahrzunehmen und Veränderung anzustreben.
Was kristallisiert sich in Deiner Gemeinde?
Die oben geschilderte Vorgehensweise gilt für jede Ebene unseres Lebens. Wenn Du Verantwortung für eine christliche Gruppe oder Gemeinde hast, dann schlage ich vor: Nutze die Kristallerkenntnis!
Was zeigt Corona über unser gemeinsames christliches Leben? Ist es auch dann noch (auf anderen Wegen) gemeinschaftlich, wenn die Routinen und die physische Gemeinschaft unterbunden sind? Was kristallisiert sich an unserem Gottesdienst als hilfreich und was als verzichtbar?
Was kristallisiert sich in der Gesellschaft und dem Staat, in dem Du lebst?
Zeigt sich vielleicht jetzt besonders deutlich, dass wir als Gesellschaft schon länger nicht mehr in der Lage sind, mit einer anderen Meinung sachlich umzugehen? Steht uns nicht jetzt die Einsamkeit unserer Gesellschaft deutlich vor Augen, die vor der Krise bereits in vielen Seniorenwohnheimen und Singlewohnungen da war? Kann es sein, dass wir so vom Tod erschüttert sind, weil wir den Tod erfolgreich aus dem Leben verdrängt hatten?
Beobachte die Auswirkungen in Deinem Umfeld und stelle Fragen, dann wirst Du wertvolle Erkenntnisse aus der Corona-Erfahrung ziehen. Genau das ist auch unsere Absicht mit diesem Blog.
Krisen haben immer Kristallisationspotenzial
Diese Option ist aber nicht Corona exklusiv: Wir haben sie in jeder Krise, denn sie kann uns zeigen, welche Dinge Bestand haben und welche nicht. Krisen zeigen uns zudem, welche unangenehmen Dinge vorher unter der Oberfläche verschüttet waren. Und: sie zeigen mir, wo ich im Blick auf mich selbst einer Täuschung aufgesessen bin!
Dietrich Bonhoeffer schreibt 1940 über den gerade ausgebrochenen Zweiten Weltkrieg:
„Nicht erst der Krieg bringt den Tod,
nicht erst der Krieg erfindet die Schmerzen
und Qualen menschlicher Leiber und Seelen,
nicht erst der Krieg entfesselt Lüge, Unrecht und Gewalt.
Nicht erst der Krieg macht unser Dasein so völlig ungesichert
und den Menschen zu dem Ohnmächtigen,
der seine Wünsche durchkreuzt
und zerrissen sehen muss von “höherer Gewalt”.
Aber der Krieg macht dies alles,
was schon ohne ihn und vor ihm da ist,
uns allen unübersehbar,
die wir doch so gern dieses alles übersehen möchten.“
Dietrich Bonhoeffer, Dez ‘40, DBW 16.94
Jetzt ersetze das Wort Krieg einmal durch Corona1:
Nicht erst Corona bringt den Tod,
nicht erst Corona erfindet die Schmerzen
und Qualen menschlicher Leiber und Seelen,
nicht erst Corona entfesselt Lüge, Unrecht und Gewalt.
Nicht erst Corona macht unser Dasein so völlig ungesichert
und den Menschen zu dem Ohnmächtigen,
der seine Wünsche durchkreuzt
und zerrissen sehen muss von “höherer Gewalt”.
Aber Corona macht dies alles,
was schon ohne sie und vor ihr da ist,
uns allen unübersehbar,
die wir doch so gern dieses alles übersehen möchten.
Ich möchte behaupten: Wir haben als Land und Welt (und hoffentlich auch als Person) so einiges aus der Krise und Katastrophe des Krieges gelernt und verbessert. Tun wir das auch aus der Corona-Erfahrung!
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ist Informatiker und Theologe. Aktuell studiert er Theologie in der Schweiz mit besonderem Interesse für die Theologie und Praxis der Alten Kirche sowie den Zusammenhang von Theologie, Philosophie und Gesellschaft im aktuellen Zeitgeschehen.
Jens ist Teil des Teams von Kirche & Corona.