Es tut sich was in der Republik. Im Moment erinnern sich viele Bundesbürger an den Wortsinn der Staatsform, in der sie leben, also an die RePublik, die res publica. Gleichzeitig erkennen sie, dass die zur Entscheidung stehende Sache (res) nicht mehr öffentlich (publica) diskutiert wird.
Vorbei die Zeit, in der These und Antithese durch eine vielfältige Medienwelt dargeboten wurde und der Bürger sich auf dieser Grundlage eine differenzierte Synthese erarbeiten konnte. Stattdessen nur These, Einheitsbrei, Eintönigkeit.
So suchen sich diese Vielen zunehmend alternative Kanäle für den Diskurs, wandern etwa in die Sozialen Medien ab. Eine neue, empörte Öffentlichkeit bildet sich heran. Auch Klagen gegen die Maßnahmen der Regierung schießen wie Pilze aus dem Boden. Und es bildet sich eine neue Partei, Widerstand 2020. Innerhalb von nur einer Woche schließen sich ihr über 40.000 Menschen an.
Und die Christen?
Da sind die einen, die sich auf das 13. Kapitel des Römerbriefes beziehen. Die Unterordnung unter die Staatsgewalt sei die erste Pflicht des christlichen Bürgers. Sehr häufig folgt daraus blinder Gehorsam, Ergebung.
Und es folgt die Blindheit vor der Tatsache, dass man sich eigentlich bürgerlich eingerichtet hat. Man hat es sich im materiellen Wohlstand gemütlich gemacht und schwimmt gerne mit dem Strom, dem Mainstream, mit.
Uwe Heimowski, der Politikbeauftragte der Deutschen Evangelischen Allianz, betont den Wert des Gebetes für die Politiker: „Redet gut von Politikern, betet für sie, segnet sie…“1 Wie recht er hat! Alle öffentliche Teilnahme an Diskussionen und Kritik muss mit dem Gebet für die Regierenden beginnen – und auch damit enden. Wenn unser Handeln durch Verurteilung und Hass anstatt durch Gebet und Liebe bestimmt ist, dann werden wir Römer 13 (siehe insbesondere Vers 8) tatsächlich nicht gerecht.
Und doch muss es erlaubt sein zu fragen: Müssen wir mehr tun als uns unterzuordnen, zu beten und zu lieben?
Es gibt da auch die anderen, die schon immer Aufmerksamen. Sie stützen sich insbesondere auf das 13. Kapitel der Offenbarung. Stets wachen sie mahnend und schauen, ob wohl bald das „Tier aus dem Meer steigt“ (Offb. 13,1). Sie sind hypersensibel und tendieren dazu, alle Ereignisse in das biblische Narrativ der Endzeit einzuordnen.
So auch jetzt: Wird nicht in Offenbarung 13 genau das beschrieben, was Bill Gates plant? Angeblich möchte er Milliarden von Menschen zusammen mit Impfungen kleine Mikrochips implantieren – ohne die „niemand mehr kaufen und verkaufen kann“ (Offb. 13,16), so würden einige dieser zeitkritischen Beobachter ergänzen.
So legitim und wichtig das Einordnen von Ereignissen in die biblische Beschreibung der Endzeit auch ist, es verleitet doch viele zu einer Abwendung von dieser Welt. Christus hat seine Nachfolger jedoch in diese Welt hinein gesandt (Johannes 17,18). Eine gesunde Beschäftigung mit der Endzeit muss eine Hinwendung zur Jetztzeit zur Folge haben.
Da sind also die einen, die es sich bequem machen, sich unterordnen und dabei in einen Tiefschlaf gefallen sind.
Und da sind die anderen, die aus sicherer Distanz Wache halten, das Zeitgeschehen einordnen und sich dabei zunehmend absondern.
Gibt es einen besseren Weg für die Kirche und den einzelnen Gläubigen?
Einen solchen hat Dietrich Bonhoeffer 19332 beschrieben. Er spricht neben der regelmäßigen Hinterfragung von Staatshandlungen und dem Dienst am Nächsten (der Diakonie) von „unmittelbarem politischen Handeln der Kirche“. Dieses sei möglich und gefordert, „wenn die Kirche den Staat in seiner Recht und Ordnung schaffenden Funktion versagen sieht, d.h. wenn sie den Staat hemmungslos ein Zuviel oder ein Zuwenig an Ordnung und Recht verwirklichen sieht.“
Ein Zuviel an Ordnung?
Sind wir heute an diesem Punkt? Die Regierung hat das Recht auf Versammlungsfreiheit und damit auch die Möglichkeit, sich zu Gottesdiensten zu treffen, vorübergehend ausgesetzt. Das beinhaltet faktisch auch die Aufhebung des Rechtes auf freie Religionsausübung. Stimmt hier die Verhältnismäßigkeit, die notwendig wäre, um solch ein Grundrecht außer Kraft zu setzen?
Oder noch allgemeiner: Zieht am Horizont gerade ein ganz neuer, in hohem Maße Freiheit einschränkender Notstand heran, an den „wir uns jetzt einfach gewöhnen müssen“, wie es von führenden Politikern formuliert wird? Sind solche Maßnahmen wie „Gesundheitszertifikate“ nur der Anfang von zahlreichen Einschränkungen und Schikanen, die als „dem Gemeinwohl dienend“ beworben werden?
Müssen wir von einem Zuviel an Ordnung sprechen? Sind wir zu unmittelbarem politischen Handeln aufgerufen?
Und wenn ja, wie sollte das aussehen? Sollte man sich einfach wieder zu Gottesdiensten treffen? Wäre das Unterschreiben von Petitionen ein wirksames Handeln? Oder das Kontaktieren von Regional- und Bundespolitikern? Müssen wir uns zu einem neuen „Marsch für die Grundrechte“ aufraffen?
Oder sollen wir nichts von alledem tun, stattdessen beten, hoffen und warten, bis alles vorbei ist?
Christen, was nun?
1 „Christen, segnet Politiker!“, Pro Medienmagazin, 24.07.2017. https://www.pro-medienmagazin.de/politik/2017/07/24/christen-segnet-politiker/
2 Dietrich Bonhoeffer, „Die Kirche vor der Judenfrage“, in: Werke (DBW 12): Berlin 1932–1933, Gütersloh: Chr. Kaiser 1997, S. 349-358.
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Antwort von Prof. Dr. Harald Seubert >>
ist Sozialarbeiter und Theologe. Seit diesem Jahr arbeitet er als Entwicklungshelfer im Nahen Osten. Von dort behält er die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Europa wachsam im Auge. Daneben ist er passionierter Radfahrer und schreibt darüber auf seinem eigenen Blog.
Benjamin ist Teil des Teams von Kirche & Corona.