- Wir brauchen keine Gottesdienste mehr!
- Antwort von Genadi Kimbel
- Entgrenzende Gottesdienste
- Gottesdienst- und Glaubenskrise?
[Dieser Artikel ist zuerst auf freikirchen.ch erschienen. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors]
Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Frage, wie die Eröffnung von Gottesdiensten nach dem Ende des coronalen Lockdowns theologisch eingeordnet werden kann. Die Brisanz der Fragestellung besteht darin, dass dafür ein Schutzkonzept erforderlich ist, das auch vorsieht, dass nicht allen Gemeindegliedern eine Teilnahme empfohlen werden kann. 1
Ich will diese Frage in einen grösseren Horizont einbetten, indem ich die universale Dimension (1.) und die Begrenztheit des Gottesdienstes (2.) reflektiere, um daraus theologisch verantwortbare Handlungsorientierung zu gewinnen (3.).
1. Der entgrenzte Gottesdienst
Jede gottesdienstliche Versammlung ist eine Teilhabe am universalen Gottesdienst. Eine lokale christliche Gemeinde, die sich versammelt, um auf die Stimme des guten Hirten zu hören und Gott zu loben,2 wird damit Teil eines universalen Geschehens.
Sie singt mit den Engeln das «Heilig, heilig, heilig» (Jes 6,3). Sie klinkt sich mit den Psalmen in das Klagen und Loben des Volkes Israels ein (vgl. exemplarisch Apg 4,24–30). Sie verbindet sich im Vaterunser mit dem Gebet Jesu Christi und damit mit dem Gebet der universalen Gemeinde, die Raum und Zeit umspannt. Der lokal gefeierte Gottesdienst ist nie nur Gottesdienst der versammelten Gemeinde. Vielmehr wird im lokalen Gottesdienst ansatzweise deutlich, dass die ganze Schöpfung auf Gott hin geschaffen ist und im Lob des Schöpfers ihr Ziel findet(vgl. Psalm 150).
2. Der begrenzte Gottesdienst
Keine gottesdienstliche Versammlung schliesst alle ein.
«Ansatzweise» heisst: Der Gottesdienst bleibt immer vorläufig. Er weist hin auf die Einheit der neuen Schöpfung, kann diese aber selbst nie genügend zur Darstellung bringen. Er ist Vorgeschmack auf die Gemeinschaft des einen Volkes Gottes aus allen Völkern und Sprachen (Offb 7,9–11), aber eben nur ein Vorgeschmack. Jede gottesdienstliche Versammlung ist daher auch mit dem Schmerz der Trennung verbunden, weil deutlich wird, dass die Vollendung noch aussteht.
Das gilt für jeden Gottesdienst, nicht erst in Corona-Zeiten. Man denke etwa an die konfessionellen oder denominationellen Spaltungen. Aber auch an die eingeschränkten Möglichkeiten der Gemeindeglieder: Wer bettlägrig ist, wer arbeiten muss oder wer im Gefängnis ist, kann nicht leiblich am Gottesdienst teilnehmen.
Wenn also in der Folge der Covid-19-Bestimmungen gefährdeten Menschen die physische Teilnahme am Gottesdienst erschwert wird, handelt es sich nicht um ein prinzipiell neues Phänomen. Die gegenwärtige Situation schärft aber unser Bewusstsein, dass jede gottesdienstliche Versammlung nicht nur inkludierende, sondern auch exkludierende Wirkungen hat. Vielleicht hilft es den Kirchen, diesem Sachverhalt grössere Beachtung zu geben, als das vor coronalen Zeiten der Fall war.
Die Begrenztheit des Gottesdienstes ist kein Grund, ihn abzusagen.
Nie hat die christliche Gemeinde auf die Begrenztheit des Gottesdienstes pessimistisch reagiert im Sinne von: Wenn nicht allen die Teilnahme möglich ist, führen wir besser keine Gottesdienste durch. Die potentielle Chance, in Gottesdiensten etwas von der eschatologischen Vollendung zu kosten, wurde immer als höher gewichtet als die potentielle Gefahr möglicher Diskriminierungen. Ich halte diese Sichtweise für richtig: Es wäre ein Unding, deshalb keine Gottesdienste durchzuführen, weil nicht alle Personen teilnehmen können.
Wenn man so argumentieren würde, dürften gar nie gottesdienstliche Versammlungen stattfinden, weil es keine Form von Versammlung gibt, an der alle leiblich teilnehmen können. Ich halte es für kein gutes Argument, wegen möglicher Diskriminierung vulnerabler Personen die Öffnung der Kirchen für Gottesdienste herauszuschieben. Ich verstehe das Anliegen, meine aber, man könnte dieses auf andere Weise besser aufnehmen als durch die Nicht-Eröffnung von Gottesdiensten. Ich möchte also im letzten Teil versuchen, die Wiedereröffnung der Gottesdienste mit der Würdigung und Beachtung gefährdeter Personen zu verbinden.
3. Der entgrenzende Gottesdienst
Unter einem entgrenzenden Gottesdienst verstehe ich einen Gottesdienst, der um die eigene Begrenztheit weiss, aber – motiviert durch die eschatologische Vision eines entgrenzten Gottesdienstes – nicht dabei stehen bleibt, sondern die Grenzen nach Möglichkeit weiter steckt.
Teilnahmebarrieren abbauen.
Die Vision eines entgrenzten Gottesdienstes impliziert, Teilnahmebarrieren nach Möglichkeiten abzubauen. Schon neutestamentliche Gottesdienste verstehen sich als «Gottesdienste ohne Mauern», also nicht als Insider- oder Gruppenveranstaltung, sondern als öffentlicher Gottesdienst, von deren Teilnahme niemand prinzipiell ausgeschlossen werden kann. Alle Anstrengungen, die unternommen werden, damit Personen am Gottesdienst teilnehmen können, sind daher zu begrüssen. Das gilt ganz grundsätzlich für eine gästefreundliche Gottesdienstgestaltung, die nicht voraussetzt, dass sich jemand zur Kerngemeinde zählt. Die Barrierefreiheit gilt auch für bauliche und technische Massnahmen, beispielsweise die Zugänglichkeit via Rollstuhl, die Einrichtung eines Eltern-Kind-Raums für stillende Mütter oder Eltern mit Kleinkindern, eine induktive Höranlage für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen etc.
Aus dieser Sicht sind die Infrastrukturmassnahmen im Schutzkonzept für Gottesdienste (Distanzregeln, Sitzordnung etc.) nicht als Einschränkung zu betrachten, sondern als Abbau von Teilnahmebarrieren. Sie verhindern nicht die Teilnahme am Gottesdienst, sondern ermöglichen diese. Das gleiche gilt für die mediale Vermittlung von Gottesdiensten (Livestream, Podcast, Telefon), die zwar nicht leibliche, aber geistliche Präsenz und Gemeinschaft ermöglichen.
Der Abbau von Teilnahmebarrieren beinhaltet in Zeiten nach dem Covid-19-Lockdown auch, die Hürden nicht höher zu setzen, als es die staatlichen Vorgaben erfordern. Die staatlichen Richtlinien sollen daher so freiheitlich wie möglich ausgelegt werden. Eine Erhöhung der Barrieren wäre dann gegeben, wenn aus einer staatlichen Empfehlung der Nicht-Teilnahme ein Teilnahmeverbot gemacht wird, oder wenn individueller Spielraum durch kirchliche Vorgaben eingegrenzt wird.
Daher sollten kirchliche Schutzkonzepte so gestaltet werden, dass die individuelle Freiheit im grösstmöglichen Rahmen gewahrt bleibt. Alle –auch gefährdete Personen –sollen nach freier Entscheidung auch gegen mögliche Empfehlungen mit gutem Gewissen teilnehmen können, ohne schrägen Blicken oder einem Generalverdacht ausgesetzt zu werden. Und ebenso muss es möglich sein, dass jede Person –auch gefährdete –mit gutem Gewissen nicht leiblich am Gottesdienst teilnehmen, ohne dass ihnen das als mangelnder Mut oder mangelndes Gottvertrauen zu Last gelegt wird. Kurz: Es braucht eine Teilnahmeerlaubnis für alle!
Wenn Empfehlungen zur Teilnahme formuliert werden, dann muss deutlich gemacht werden, dass es sich um nicht mehr und nicht weniger als eine Empfehlung handelt, die jeder und jede Einzelne in der Freiheit des Gewissens beachten oder auch nicht beachten kann. Ebenso muss gewährleistet sein, dass die Angabe von Personendaten oder die Verwendung einer digitalen Applikation freiwillig erfolgt und eine Gottesdienstteilnahme nicht davon abhängig gemacht wird. Wenn die staatlich erlaubte Gruppengrösse unter der normalen Anzahl von Gottesdienstteilnehmern liegt, könnten auch mehrere Gottesdienste an unterschiedlichen Zeiten bzw. Wochentagen angeboten werden, so dass möglichst vielen Personen die Teilnahme ermöglicht wird. In jedem Fall würde ich empfehlen, im grösstmöglichen Rahmen Gottesdienst zu feiern und das erlaubte Maximum der Gruppengrösse nicht ohne Not zu verringern.
Über sich selbst hinausweisen.
Im Bewusstsein um die Begrenztheit jedes Gottesdienstes wird in der Gottesdienstgestaltung besonders darauf geachtet, dass der Kreis der versammelten Gemeinde nicht verschlossen, sondern aufgebrochen und offengehalten wird. Das gilt sowohl hinsichtlich des himmlischen Gottesdienstes und der universalen Kirche (vgl. 1.1.) als auch hinsichtlich derjenigen Personen, die mit einer lokalen Gemeinde verbunden sind, aber am Gottesdienst nicht leibhaft teilnehmen. Es kann nicht angehen, sich darüber zu freuen, dass man wieder Gottesdienst feiern kann, und diejenigen zu vergessen, die daran nicht teilnehmen können. Vielmehr muss deutlich werden, dass vom versammelten Gottesdienst ein Segen ausgeht, der auch die nicht anwesenden Gemeindeglieder umfasst.
Je deutlicher wird, dass die lokale Gemeinde sowieso begrenzt ist und über die versammelte Gemeinde hinaus-weist, desto einfacher wird es sein, auch die Verbindung zu den nicht anwesenden Gemeindegliedern bewusst zu gestalten. Vorzüglicher Ort für die Verbundenheit mit den Nicht-Anwesenden ist die Fürbitte, aber auch das Überbringen wechselseitiger Grüsse. So könnten beispielsweise Grüsse von nicht-anwesenden Personen im Gottesdienst ausgerichtet werden – und aus dem Gottesdienst könnten einzelne Gemeindeglieder den Nicht-Anwesenden einen Gruss überbringen, vielleicht verbunden mit einer Karte oder einer anderen Liebesgabe.3
Auch das in protestantischen Kirchen bekannte Glockenläuten während dem Vaterunser eröffnet die Möglichkeit einer Teilnahme am Gottesdienst ohne physische Präsenz. Zudem ermöglicht der Einsatz technischer Medien die Verbundenheit ohne leibliche Anwesenheit. In dieser Hinsicht ist es stimmig, dass im Schutzkonzept geraten wird, digitale Angebote zur Mitfeier des Gottesdienstes aufrechtzuerhalten.
In ein vielfältiges Gemeindeleben integriert sein.
Die Begrenzung des lokalen Gottesdienstes wird nicht nur in der Versammlung selbst entgrenzt (3.2.), sondern auch durch die Einbettung in den Gemeindeaufbau. Der Gottesdienst der versammelten Gemeinde ist Höhepunkt und Quelle des kirchlichen und christlichen Lebens. Das heisst: Das Feiern eines Gottesdienstes im grösstmöglichen Rahmen darf nicht dazu führen, andere Versammlungsformen in kleinerem Rahmen zu vernachlässigen oder gefährdete Personen zu übersehen. Im Gegenteil: der Gottesdienst der versammelten Gemeinde fördert ethisches Verhalten und belebt auch andere Versammlungsformenwie Kleingruppen, Hauskreise, Gebetsgruppen, Besuchsdienst, etc.
Das ist zu beherzigen, gerade wenn man jetzt mit neuem Enthusiasmus Gottesdienst feiern kann! Die Gaben und Fähigkeiten, die Gott einer lokalen Gemeinde geschenkt hat – die finanziellen und personellen Ressourcen, die Infrastruktur – können daher nicht nur für die sonntäglichen Gottesdienste eingesetzt werden, sondern sollen im Dienst der Vielfalt des gemeindlichen und christlichen Lebens stehen.
Es kann daher auch nicht sein, dass im pastoralen Beruf die ganze Aufmerksamkeit dem Wiederfeiern des Gottesdienstes gilt. Vielmehr gehört es gerade zur pastoralen Aufgabe, die Sicht für das ganze Spektrum des Gemeindeaufbaus und für die Vielfalt der unterschiedlichen menschlichen Lebenssituationen offen zu halten und den Gottesdienst so gut wie möglich mit anderen Handlungs- und Begegnungsformen zu verzahnen. Insbesondere sollte in einer Zeit, in der berechtigterweise gefährdete Personen den physischen Kontakt in grösseren Gruppen meiden, den Hausbesuchen und Telefonkontakten hohe Beachtung geschenkt werden.
Fazit:
Aus theologischer Hinsicht halte ich es für sinnvoll und geboten, baldmöglichst im grösstmöglichen Rahmen mit möglichst minimalen Hürden Gottesdienste zu feiern. Das ist segensreich nicht nur für diejenigen Personen, die leibhaft am Gottesdienst teilnehmen, sondern für das gesamte kirchliche Leben und auch für diejenigen Menschen, die nicht leiblich am Gottesdienst teilnehmen. Voraussetzung dafür ist das Verständnis, dass im Gottesdienst nicht nur die lokale Versammlung feiert, sondern die universale Kirche. So wird der begrenzte Gottesdienst entgrenzt und es wird ansatzweise deutlich, was einst zur Vollendung kommt:
Danach sah ich, und siehe, eine große Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen; die standen vor dem Thron und vor dem Lamm, angetan mit weißen Kleidern und mit Palmzweigen in ihren Händen, und riefen mit großer Stimme: Das Heil ist bei unserm Gott, der auf dem Thron sitzt, und bei dem Lamm! Und alle Engel standen rings um den Thron und um die Ältesten und um die vier Wesen und fielen nieder vor dem Thron auf ihr Angesicht und beteten Gott an und sprachen: Amen, Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.
(Offenbarung 7,9–12).
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ist ordentlicher Professor für Praktische Theologie an der STH Basel.
Prof. Schweyer schreibt hier als Gastautor.
Fußnoten
- Vgl. Schutzkonzept von freikirchen.ch, https://freikirchen.ch/wp-content/uploads/2020/04/Schutzkonzept-Freikirchen-nach-Lockdown-Version-30.04.2020.pdf(zuletzt abgerufen am 8.5.2020)
- Die sogenannte «Torgauer-Formel» bietet eine knappe Definition des Gottesdienstes: «… dass nichts anders darin geschehe, denn das unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang», Martin Luther in der Predigt zur Einweihung der Schlosskirche in Torgau, WA 49, 588.15–18; ähnlich auch in der Liturgiekonstitution des 2.Vatikanischen Konzils: «Denn in der Liturgie spricht Gott zu seinem Volk; in ihr verkündet Christus noch immer die Frohe Botschaft. Das Volk aber antwortet mit Gesang und Gebet», Sacrosanctum Concilium
- So ähnlich wie die Diakone, deren Aufgabe es in der Alten Kirche unter anderem war, den Witwen und Kranken Gaben zu bringen, die im Gottesdienst zusammengelegt wurden, Traditio Apostolica24.